LT 1: Politischer Bildungsurlaub für betreute Menschen
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Wie und wo Gesetze gemacht werden...
Berliner Weiße mit Schuss auf dem Alexanderplatz, Informationen über Beschwerdemöglichkeiten, wenn Betreuung zur Bevormundung wird und auch ein bisschen Selbsterfahrung - ein guter Bildungsurlaub hat von all dem etwas. Und so ließ das Wochenprogramm der Gruppe, die von Hamburg nach Berlin reiste, um zu erfahren, wie und wo Gesetze gemacht werden, auch in dieser Hinsicht genügend Freiraum.
Zehn Teilnehmende waren 2001 Pioniere für einen Versuch, der bis dahin einfach nicht unternommen worden war: politische Bildung für Menschen mit geistiger Behinderung. Bildungsurlaub, fünf Tage lang, einmal im Jahr, wie er jedem zusteht - dass betreute Menschen oder Menschen mit Behinderung solche Angebote nutzen, sich bilden und weiterentwickeln wollen so wie alle anderen Arbeitnehmer auch, zeigt der Hamburger Verein Leben mit Behinderung Hamburg erfolgreich seit nunmehr sieben Jahren.
Geht das überhaupt?
Für die meisten Bildungsurlauber war der Ausflug ins politische Berlin die erste Reise ohne Wohngruppe überhaupt. Ganz ähnlich wie Eltern, für die ihre behinderten Kinder immer Kinder bleiben, sind auch Institutionen gelegentlich betriebsblind, wenn es um die Selbstständigkeit ihrer betreuten Bewohner geht. Zwar gab es auch Institutionen, die sofort und gerne das Projekt unterstützten. Doch nicht wenige reagierten anders: An ihren Arbeitsplätzen, den Werkstätten für Menschen mit Behinderung, laufen Antragsteller nicht gerade offene Türen ein.
Groß ist die Skepsis darüber ob die erwachsenen Männer und Frauen ihre Reisekasse im Griff behalten können. Ebenso groß der Zweifel, wie ausgeprägt die Bildungswünsche denn wirklich seien und ob politische Information für Menschen die zumeist Analphabeten sind, überhaupt ankommen kann. Sie kommen an und es geht weit besser als gedacht.
Zum Ende einer Bildungswoche hin nimmt der Unterstützungsbedarf regelmäßig merklich ab, stellt Rüdiger Pohlmann fest. Die meisten können beispielsweise selbstständig bestellen und bezahlen. Gespräche, Ausstellungen und Besichtigungen stoßen auf lebhaftes Interesse. Noch Jahre nach der Reise wenden sich ehemalige Bildungsurlauber an den Verein Leben mit Behinderung Hamburg wenn sie Rat in Rechtsfragen haben oder sich nach einer weiteren Gelegenheit zur persönlichen Fortbildung erkundigen wollen.
Ein gutes Recht für alle
Zu einem normalen Bildungsurlaub sieht Rüdiger Pohlmann von Leben mit Behinderung nur einen Unterschied: diese Teilnehmenden sind bei der Reiseplanung auf Engagement Dritter angewiesen. Davon abgesehen aber geht es auch für sie um Wissen, das überprüft und vervollständigt werden muss, beispielsweise bei einer Stadtführung durch das neue Berlin oder beim Gespräch über den Mauerbau („Damals war ich elf Jahre alt“) und später beim Nachdenken über den Faschismus in den Hackeschen Höfen. Es geht auch hier um Vergleiche, die den Horizont erweitern, zum Beispiel beim Besuch eines Berliner Kulturprojektes.
Und es geht um neue Perspektiven: Eine Teilnehmerin setzte, ermutigt durch die Begegnung mit Berlinern, die aufgrund guter Betreuung in der eigenen Wohnung leben können, ihren Wunsch auf selbstständiges Wohnen durch. Eine andere ließ sich nach der Reise zur Sprecherin ihrer Wohngruppe wählen.
Reisen bildet und nicht zuletzt die Fachleute selbst lernten dazu: Waren beim ersten Bildungsurlaub noch die Kontakte zu ebenfalls betreuten Menschen die unkompliziertesten, so liefen bald auch ungewohnte Gespräche, sei es mit dem Historiker im Deutschen Museum oder mit Bundestagsabgeordneten, auf Augenhöhe ab.
Bildungsziel: Emanzipation und Teilhabe
Treffen mit Vertretern des Rechtsausschusses im Bundestag. Ein wenig Unbehagen ist manch einem der Politiker anzumerken, denn dieses Gespräch verläuft nicht in den gewohnten Schablonen. Fragen werden von roten Karten verlesen. Das dauert manchmal länger als gewohnt und mit einer vorgeformten Antwort stößt man bei diesen Fragern gelegentlich auf Unverständnis. Bald aber kommt man sich näher.
Eine Diskussion entwickelt sich darüber, warum Eltern nicht immer die besten Betreuer fürs „Kind“ sind und darüber, wie man sich gegen Bevormundung wehren kann. Fragen zur politischen Meinungsbildung... Werden die Gedanken konkreter im Verlaufe eines Bildungsurlaubs? Oder liegt es auch an der Dramaturgie dieses besonderen Angebotes, dass beim Abschlussgespräch immer klarer nachgehakt wird: „Meine Rente ist viel zu klein“, sagt eine Teilnehmerin und ein anderer: „Wir brauchen mehr Personal in den Wohngruppen.“
Am Ende des fünftägigen Bildungsurlaubs ist die Bilanz vielfältig. Eine Teilnehmerin äußert, dass ihr alles viel zu schnell gegangen sei, eine andere, dass sie gerne wieder mitfahren möchte und dass sie sich das vorher „auch“ nicht zugetraut hätte.
Daten & Fakten
Politischer Bildungsurlaub für betreute Menschen
Veranstalter: Leben mit Behinderung Hamburg*
Projektstart: 2001
Teilnehmer/innen seither: rd. 100
durchgeführte Bildungsreisen: 9
Ziele: Berlin, Dresden
Vollmacht in einfacher Sprache für Menschen mit Lernbehinderung
Schnittstellenerklärung zwischen den rechtlichen Betreuerinnen und den Mitarbeitern der unterstützenden Wohnangebote
Kontakt:
Leben mit Behinderung Hamburg
Rüdiger Pohlmann, Südring 36, 22303 Hamburg
www.leben-mit-behinderung-hamburg.de
*Leben mit Behinderung ist ein Betreuungsverein, in dem 10 Berufsbetreuer für 250 Menschen mit Behinderung zuständig sind und umfangreiche Querschnittsarbeit leisten. Dazu gehören auch Angebote zur politischen Bildung, die der Verein den Betreuten anbietet, z.B.: Fortbildungsveranstaltungen in Rechtsfragen (z.B. Besuch beim Amtsgericht), Stammtisch für Betreute und – neuestes Projekt – Bildungsurlaub für Behördenvertreter und behinderte Menschen.