LT 2: Rechtliche Betreuung für Migrantinnen und Migranten
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Viele sind in Deutschland noch gar nicht angekommen
Wer versucht, den Rechtsbegriff „gesetzliche Betreuung“ ins Türkische zu übersetzen, landet irgendwo zwischen Patriarchat und Pflegedienst – in einer ganz falschen Ecke also. Welche Missverständnisse sich schon hier, im Vorfeld einer Betreuung, ergeben können, weiß Ali Türk, dessen eigene Muttersprache türkisch ist, nur zu gut. „Die Sprache ist ein Türöffner und darauf kommt es umso mehr an, wenn ein zunächst Fremder einen Teil der Geschäfte für einen anderen Menschen tätigen soll.“, sagt Ali Türk vom Institut für transkulturelle Betreuung (ITB) in Hannover.
Kanuni Müşavirlik – rechtlicher Außenvertreter
Das ITB entstand im Umfeld des Ethno-Medizinischen Zentrums Hannover. Dort häuften sich Mitte der 90er Jahre die Hilfsanfragen von Migrantinnen und Migranten, denen deutsche Beratungsstellen zu weit weg und unzugänglich erschienen und die sich Austausch und Beratung auf Augenhöhe wünschten. Versorgungsanalysen zeigten den Initiatoren, wie groß die Gruppe ist und dass andere Betreuungsvereine auf deren Belange nicht vorbereitet waren.
Neunzehn Muttersprachler mit insgesamt 16 Sprachen bilden das Betreuerteam des ITB. Sie entwickelten nicht nur für die türkischen Betreuten mit dem Ausdruck Kanuni Müşavirlik – was übersetzt soviel bedeutet wie rechtlicher Außenvertreter – den passenden Begriff, die Fachleute beim ITB verstehen auch die Kultur ihrer Betreuten besser. Es sind beispielsweise die in Rente gegangen Gastarbeiter von einst: vor Jahrzehnten aus Griechenland oder Spanien zur Arbeit nach Deutschland übersiedelt, stehen viele heute vollkommen vereinsamt und ohne Familie da. Der Weg zurück ist längst verstellt. Eine griechisch-sprechende Betreuerin beim ITB kennt die soziale Lage dieser Männer sehr genau. Betreute aus den GUS-Staaten dagegen haben vollkommen andere Probleme: In ihren Herkunftsländern als Deutsche beschimpft, gelten sie hier als Russen und erleben täglich ihre Chancenlosigkeit.
Migrantinnen und Migranten sind anders
Betreute mit dem Hintergrund Migration sind zu 60% männlich, sie leiden häufig an Psychosen und Depressionen. Auch Suchtprobleme können, beispielsweise in der Gruppe der Betreuten aus GUS-Staaten, eine besondere Rolle spielen. Viele leiden unter Belastungsstörungen, was darauf hinweist, dass auch die Migrationsgeschichte selbst einen Teil des Hilfebedarfs erklärt. Den besonders hohen Anteil junger Migrantinnen und Migranten, die aufgrund psychischer Störungen betreut werden müssen, erklärt sich das muttersprachliche Betreuerteam damit, dass sie in ihren Familien nicht selten an der „kurzen Leine“ groß werden. Später, so Ali Türk, können sie mit dem selbstständigen Leben als Erwachsene ihre Probleme bekommen.
Entscheide du für mich - Betreuung anders verstanden
Türkische Familien, so die Erfahrung des ITB, empfinden die rechtliche Betreuung durch Landsleute nicht als Bevormundung. Im Gegenteil: nicht selten sind sie froh, nun endlich einen verlängerten Arm in die oft undurchschaubare deutsche Gesellschaft zu haben. Auch hier ist Muttersprache hilfreich, um dem Betreuten klar zu machen, dass er trotzdem immer noch selbst entscheiden muss.
Kultursensible Betreuung bedeutet aber auch, dass sich der vermeintliche „Landsmann“ nicht als Verbündeter der Familie vereinnahmen lässt, sondern seinen gesetzlichen Auftrag ernst nimmt, wenn es Konflikte gibt: Da ist die Familie mit dem schwerbehinderten Kind, Mittelstand und gut gebildet. Mit Hilfe des EMZ und ITB wurden Hilfseinrichtungen für zu Hause zur Verfügung gestellt. Doch in der Schule fiel der gleichbleibend schlechte Zustand des Mädchens auf. Der Mitarbeiter hakte nach und stellte beim Hausbesuch fest, dass die Familie die Hilfe nicht angenommen hatte. Das Kind war erbärmlich schlecht versorgt und musste zu seinem eigenen Schutz in einer Pflegefamilie untergebracht werden.
Es gehört viel Wissen auch um die sensiblen Zwischentöne einer Kultur dazu, um zu begreifen, dass in diesem Fall die Behinderung des Kindes nur mit Scham und mit Abwehr hingenommen wurde. Dieselbe Sprache zu sprechen bedeutet mehr zu verstehen und – wie in diesem Fall – auch Schlimmeres zu verhindern.
Die Versorgung nachhaltig verbessern
Der spezielle Hilfebedarf von Migrantinnen und Migranten wird oft übersehen, denn in den zuständigen Behörden oder Gerichten spricht man nicht die nötigen Fremdsprachen, während die Hilfebedürftigen selbst sich auf Deutsch nicht verständigen können. So kommt es, dass Migranten oft eher zufällig mitversorgt werden. Auch Betreuungen werden spät eingerichtet, da die Zuführung über die Regelversorgung nicht immer angenommen wird.
Das zu ändern, hat sich das ITB vor mehr als zehn Jahren auf die Fahne geschrieben. In den kommunalen Fachgremien, auf Tagungen und mit Öffentlichkeitsarbeit sorgt das ITB-Team dafür, dass das Thema Migration und Betreuung vorankommt. Bis heute aber ist das Institut für transkulturelle Betreuung (Betreuungsverein) e.V. (ITB) in Hannover der einzige Betreuungsverein für Migrantinnen und Migranten geblieben.
Daten & Fakten
Betreuungsverein für Migrantinnen und Migranten
Betreuungsverein: Institut für transkulturelle Betreuung (ITB) e.V. Hannover*
Projektstart: 1996
Betreute: rd. 500
Team: 19 Betreuer aus 10 Herkunftsländern / 4 Verwaltungsmitarbeiter/innen
Sprachen: 16 Sprachen
Kontakt:
Institut für transkulturelle Betreuung (ITB) e.V.
Ali Türk (Geschäftsführer), Am Listholze 31 A, 30177 Hannover
Tel: 0511 / 590 920 0, www.itb-ev.de
*Das ITB ist der erste und bundesweit bislang einzige Betreuungsverein, der sich auf die rechtliche Betreuung von Migrantinnen und Migranten spezialisiert hat. Der Arbeitsschwerpunkt wird konsequent ausgebaut durch ein eigenes Kurrikulum zur Fortbildung der Vereinsbetreuer in migrationsspezifischen Fragen.