LT 5: ReduFix – die Kampagne gegen Fixierung in der Pflege
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Fesselnde Fürsorge
Eine ganze Nacht auf dem Rücken liegend, mit sehr eingeschränkter Möglichkeit sich seitlich zu drehen, sich wenn nötig am Fuß zu kratzen oder die Beine anzuwinkeln, für die meisten Menschen ist das der Alptraum. Etwa 50.000 Menschen in der Bundesrepublik erleben ihn Nacht für Nacht: Durch einen Bauchgurt an der Matratze angeschnallt, bei Bedarf zusätzlich an Armen und Beinen fixiert. Nicht für Minuten oder ausnahmsweise. Vielmehr: Über Stunden und Jahre.
Die Liste der Hilfsmittel, mit denen „ruhig“ gestellt wird, ist lang: Sie beginnt bei den vermeintlich gut gemeinten Bettgittern, geht über Brust- und Bauchgurte in vielen Varianten bis zu den Psychopharmaka. Meist gehen Pflegekräfte gleich mehrfach auf Nummer sicher und wenden nicht nur eine Fixierungsart an. Der Jurist und Theologe Dr. Thomas Klie, Professor an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg und Mitinitiator von ReduFix schätzt die Zahl der Anwendungen auf 350.000 pro Tag und Nacht.
Gewaltige Routine
Fixierungen sind längst ein geradezu selbstverständliches Mittel der Freiheitsberaubung geworden. Und es sind oft die immergleichen Argumente, die das ReduFix-
Team in Pflegefortbildungen hört: Gerne mache das niemand, aber es beruhige die Angehörigen, schütze vor Rechtsansprüchen, sollte mal jemand stürzen, und – ja – es entlaste auch hin und wieder bei kleinen Personalengpässen. Rechtliche Betreuer wissen: Es gibt Einrichtungen, in denen dauert es keine drei Tage nach der Übersiedlung, da fragt man dort schon nach Bettgittern. In anderen Häusern nie. Wie das? „Fixierungen haben mit Einstellungen und Haltungen zu tun“, sagt Dr. Doris Bredthauer, Ärztin und Professorin an der Fachhochschule Frankfurt. Sie ist eine der Initiator/innen des Programms ReduFix und wie Prof. Klie Mitglied des Vormundschaftsgerichtstags e.V. „Verordnungen für Fixierungen variieren zwischen vier und sechzig Prozent je nach Einrichtung – bei gleichem Pflegebedarf der Bewohnerinnen und Bewohner. Es gibt Heime, die kommen ganz ohne aus, und solche, in denen diese Art von Freiheitsberaubung Routine ist.“
Nicht selten beginnt mit scheinbar einfachen Mitteln eine Spirale zunehmender Gewaltanwendung. Fixierte Patienten sind zwar bewegungsunfähig. Ruhiger aber werden sie nicht. Vier von fünf Fixierten sind dement, verstehen den Sinn der Maßnahmen nicht und reagieren nicht selten mit Panik und Stress. Es braucht wenig Phantasie, sich auszumalen, was die maßlose Einschränkung in diesen Fällen bewirkt. So bleibt es meist nicht bei der einfachen Fixierung, vielmehr werden die Maßnahmen im Laufe der Zeit „angepasst“, Psychopharmaka werden zusätzlich erhöht.
Dazu kommt, dass Bauchgurte oft falsch oder zu lose angelegt werden. Sie werden damit zu einer besonders großen Gefahr für das Leben der Betroffenen, die mit aller Kraft versuchen, sich aus der Fesselung zu winden. Der Arzt Dr. Jan Wojnar hat dargestellt, welche tödliche Gefahren infolge solcher Fesselungen passieren (Betreuungsrechtliche Praxis 1/1995:12–16).
ReduFix – Alternativen zur Fixierung
Offenkundig glauben die Pflegekräfte selbst nicht, dass Fixierungen ein gutes Hilfsmittel sind und entlasten sich durch zu lasches Anlegen der Gurte, vermutet Prof. Bredthauer. Sie nutzt in der ReduFix Schulung das hohe Eigeninteresse von Pflegekräften. „Keiner, der in der Pflege arbeitet, ist froh über das System und die meisten wünschten sich, sie hätten die Alternativen.“, sagt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Gerontopsychiatrie. Über solche Alternativen klärt die Kampagne auf: Im Zentrum steht ein verändertes Bewusstsein und eine veränderte Einstellung. Bei-des bringt mehr Handlungssicherheit. In einem interdisziplinären Entscheidungsprozess lernt man auszuloten, welche Alternativen individuell und risikospezifisch für den konkreten Fall eingesetzt werden können. Diese orientieren sich an allgemeingültigen Standards und Empfehlungen, z.B. dem Expertenstandard Sturzprophylaxe des DNQP, dem Qualitätsniveau I der BUKO-QS oder den Rahmenempfehlungen im Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz. Auch die Arbeitsorganisation (z.B. Nachtangebote) sowie baulich-architektonische Maßnahmen (z.B. Licht, Kontraste, Bewegungsfreiheit) tragen zur Verbesserung der Situation bei. Zu den technischen Hilfen zählen u.a. Hüftprotektoren („Sturzhosen“), die man sich wie gut ge-
polsterte Hufeisenringe auf dem Hüftgelenk vorstellen kann, absenkbare Betten, die für gefahrloses Fallen stehen oder Sensormatten, die Alarm geben, wenn ein Bewohner nachts aufsteht.
Viele Heime überschätzen vor der Schulung durch ReduFix den Organisationsaufwand. Dabei genügen als Anschaffungsmaßnahmen z.B. zwei bodennahe Betten und ein gutes Dutzend Hüftprotektoren, denn nicht alle Bewohner sind zu allen Zeiten gefährdet und müssen ständig geschützt werden. Vielmehr sind es aber die „kleinen“ kreativen Lösungen, die häufig schon vor Ort vorhanden sind oder wenig Geld kosten, wie z.B. Teppichunterlegmatten aus dem Baumarkt als selbst gebastelte Antirutsch-Auflage auf Stühlen.
Hilfreiche Zahlen für den selbstkritischen Vergleich bieten auch die Erkenntnisse des ReduFix-Forschungsteams: Positive Effekte von Fixierungen – beispielsweise weniger sturzbedingte Verletzungen oder geringerer Pflegeaufwand – konnten nicht gezeigt werden. Negative Folgen dagegen ließen sich massenhaft belegen. Solches Wissen hilft den Fachleuten in der Praxis und den Betroffenen unmittelbar: Im Rahmen der ReduFix-Studie konnte innerhalb von drei Monaten jede fünfte Fixierung vollständig beendet werden. In dieser Zeit wurden nicht mehr Psychopharmaka gegeben, Verhaltensauffälligkeiten nahmen tendenziell ab und es gab keine höhere Verletzungsrate, obwohl wenige zusätzliche Stürze vorkamen.
ReduFix – Rückendeckung für Rechtliche Betreuer
Absolute Sicherheit hat auch ein Programm wie ReduFix nicht zu bieten. „Aber kann es sein, dass Hunderte und Tausende täglich in Fesseln gelegt werden allein aus Gründen der Regresspflicht?“, fragt Professor Thomas Klie. Rechtliche Betreuer sind in diesem Zusammenhang Entscheider mit einer Schlüsselrolle. Sie kennen das Problem in der Praxis sehr genau und wissen, wie leicht eine richterliche (Ausnahme-)Genehmigung zur Fixierung von Pflegekräften als Anordnung missverstanden wird oder wie sehr Angehörige auf Sicherungsmaßnahmen drängen.
Nicht wenige überprüfen dies durch unangemeldete Besuche in Pflegeheimen oder auf psychiatrischen Stationen, denn sie nehmen ihre Wächterfunktion wahr. Sie fragen nach, warum eine Fixierung als notwendig angesehen wird oder hinterfragen, warum ein alter Mensch, der tagsüber gestolpert ist, in der Nacht in die Gurte muss. Fixierungen sind immer ein schwerer Eingriff in die Menschenrechte. Bauchgurte, etwa im Bett oder am Rollstuhl, Bettgitter, Psychopharmaka zur Ruhigstellung, Stecktische und verschlossene Türen greifen empfindlich in die Freiheitsrechte eines Menschen ein. Sie müssen und können vermieden werden, dies sind Leitgedanken der Kampagne ReduFix, die kritischen Betreuerinnen und Betreuern den Rücken stärkt.
Daten & Fakten
ReduFix: Neu sehen. Anders handeln.
Altenpflegeheime aus Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen nahmen am Startprojekt ReduFix von 2004 – 2006 teil. In Schulungen wurden durch Fallbeispiele Entscheidungen für oder gegen eine Fixierung systematisch reflektiert mit dem Ziel, Handlungssicherheit zu vermitteln sowie Alternativen aufzuzeigen.
Alten- und Pflegeheime in Baden-Württemberg können sich noch bis Ende Juni 2009 kostenfrei nach dem ReduFix-Konzept durch einen Pflegewissenschaftler und Projektmitarbeiter schulen lassen. Mittlerweile wird das Konzept bundesweit umgesetzt. Im ebenfalls durch das BMFSFJ geförderten Folgeprojekt stand unter dem Titel ReduFix praxis die Implementierung der Erkenntnisse in den Bundesländern im Fokus. Im Mai 2009 startet das Projekt ReduFix ambulant, das sich mit dem Thema Gewalt in der häuslichen Pflege befasst.
Weitere Informationen: www.redufix.de
Der Vormundschaftsgerichtstag e.V. unterstützt die Kampagne zur Reduzierung von freiheitsberaubenden Fixierungen.