LT 6: Wächteramt ernst genommen – Betreuerhandeln im Heim, z. B. der Betreuungsverein Bremerhaven

LT 6 als PDF (ca. 0,8 MB)  |  Daten & Fakten

 

Am 12. Dezember 2008 beginnt mit einem Brief an ein Bremerhavener Pflegezentrum eine öffentliche Debatte um Pflegenotstände in der Region, die bald schon über Monate die Medien und Bürger/innen in und um Bremerhaven beschäftigen wird: Der Geschäftsführer des Betreuungsvereins Bremerhaven e.V., Hans-Josef Göers erklärt „bis auf weiteres“ das „Pflegezentrum am Bürgerpark“ bei der Belegung nicht mehr zu berücksichtigen und für „kurzfristige Heimverlegung zu sorgen, wo es aus Sicht der Betroffenen notwendig ist“. Eine Kopie des Briefes geht an das Vormundschaftsgericht Bremerhaven, die Betreuungsbehörde, die Heimaufsicht und erreicht schließlich auch die örtlichen Medien, die über die Entscheidung des Vereins umfassend informieren.

 

Nicht zum ersten Mal Missstände kritisiert

Wegen unzumutbarer Zustände hatte der Verein einen „Belegungsboykott“ angekündigt und in einem Brief eine lange Liste von Missständen dokumentiert: Da erfuhr ein Betreuer, dass eine Bewohnerin im Rollstuhl vor einem unangerührten Mittagessen saß und sich vor Schmerzen krümmte – über eine Stunde lang, ohne Hilfe zu bekommen. Da wurden Informationen über die Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Bewohnern den Betreuern eher zufällig und selten mitgeteilt. Da verlor eine demente Bewohnerin mehrfach ihr Gebiss – und niemand kümmerte sich darum, bis die Krankenkasse sich weigerte, neuen Zahnersatz zu finanzieren. Da ist laut Betreuungsverein die Buchführung schlicht eine „Katastrophe“. Und da hatte sich am Ort schon lange herumgesprochen, dass „etwa ein Drittel Arbeitnehmerinnen als ‚Leiharbeiter’ beschäftigt sind“ und der Arbeitgeber bekannt ist für eine „Vielzahl von Verfahren“, die an der Termintafel des Arbeitsgerichtes aushingen.

 

Öffentliche Debatte über Qualität, Privatisierung und Arbeitsbedingungen initiiert


In den Monaten danach wird in der Presse eine beispiellose Debatte über Pflegemissstände (nicht nur) in dem vormals städtischen Heim geführt. Besonders aktiv zeigt sich die Nordsee-Zeitung, die immer wieder kontroverse Debatten in der Zeitung, in Expertenrunden, Leserforen und öffentlichen Veranstaltungen forciert. Auch Heimaufsicht und Pflegekassen geraten ins Rampenlicht. Die Heimaufsicht beschreibt das Heim als „eines unserer Sorgenkinder“, die Sozialsenatorin entfaltet hektische Betriebsamkeit und die Bremische Bürgerschaft (Landtag) veranstaltet eine aktuelle Fragestunde zu den Vorkommnissen. Das Ergebnis: Die Heimaufsicht soll personell verstärkt werden und es wird eine monatliche Sprechstunde für Angehörige, Mitarbeiter/innen und Bewohner/innen im Heim angekündigt. Zuvor waren gezielte Besuche der Heime nur nach Voranmeldung und nur in sehr langen zeitlichen Abständen üblich.
Dem Pflegeheim werden konkrete Auflagen gemacht: Mehrere Monate dürfen nur zwei Drittel der Heimplätze belegt werden, schriftliche Berichte müssen in kurzen Abständen gegenüber dem MDK abgegeben werden und es werden besondere Auflagen in der Dekubitusversorgung gemacht.

Dank der aktiven Wächterrolle des Betreuungsvereins erfahren und diskutieren viele Leser/innen engagiert die sonst eher abstrakten Detailfragen rings um die stationäre Pflege: Haben die Betreuer übertrieben? Wer arbeitet im Heim unter welchen Bedingungen? Liegen die Missstände an der Privatisierung? (Das vormals städtische Heim war 2002 von dem Oldenburger Unternehmen „Hansa – Gemeinnützige Altenheim Verwaltungs- und Service GmbH gekauft worden.) Welche Erfahrungen machen Bewohner/innen, Angehörige und die Pflegekräfte? Reichen die Pflegesätze für eine anständige Bezahlung und gute Qualität?
Angehörige melden sich zu Wort, die sich zum Schweigen über Missstände „überreden“ ließen. Ehemalige Mitarbeiter/innen berichten namentlich oder anonym über die Missstände. Den meisten merkt man die Erleichterung an, dass endlich ein Tabu gebrochen wird, denn bis dahin galt: „Macht einer den Mund auf, kann er mit einer Kündigung rechnen“.

Eine Altenpflegerin packt aus

Nordsee-Zeitung, 15. Januar 2009, Auszug
„Die Zahl der Mitarbeiter sei extrem geschrumpft, als das ehemals städtische Heim privatisiert worden sei. ‚Mit 3,5 Pflegekräften mussten wir morgens 42 Bewohner pflegen, 16 davon haben wir Essen gereicht. Das war nicht zu schaffen.’ Sie habe 2005 über eine Selbstanzeige nachgedacht, dann jedoch zunächst einen Anwalt eingeschaltet. Heimaufsicht, Medizinischer Dienst und Hansa-Gruppe hätten nicht reagiert, als sie diese auf die Missstände aufmerksam gemacht habe.“

Juristische Dimension

Im  Januar 2009 zeigt der Geschäftsführer des Betreuungsvereins das Heim wegen Körperverletzung Schutzbefohlener an: Ärzte eines Krankenhauses hatten unmittelbar nach Aufnahme einer Bewohnerin schwerste Dekubitusstellen entdeckten, die weder dem Betreuer noch den Angehörigen trotz konkreter Nachfragen mitgeteilt worden waren. Das Heim verklagt daraufhin Hans-Josef Göers wegen Verleumdung, denn man bestreitet, dass es überhaupt einen Dekubitus bei der inzwischen verstorbenen Bewohnerin gab.
In einer großen Expertenrunde am Runden Tisch in den Räumen der Nordsee-Zeitung versucht Ende Januar 2009 die Redaktion Wahrheitsfindung im Diskurs. Der Geschäftsführer des Heimes gibt Mängel zwar zu, bezeichnet jedoch die „drastischen Vorwürfe“ als „schlichtweg falsch“. Heimaufsicht und Medizinischer Dienst geben kein gutes Bild ab – die Redakteure zeigen sich erstaunt über die Art der Recherchen des MdK und das späte Handeln der Heimaufsicht.

 

Fazit nach einem Jahr

Der Verein bleibt bei seinem „Boykott“ zum Schutz der Betreuten und verhindert weiterhin Belegungen durch „seine“ Klient/innen. Denn noch wird in der Einrichtung an einer Qualitätsverbesserung gearbeitet. Ob sie gelingt und ob der Heimträger diese Phase auch wirtschaftlich unbeschadet übersteht, ist jedoch fraglich, so zeugt beispielsweise eine ungewöhnlich hohe Fluktuation in der Leitungsebene von unzureichender Kontinuität der Heimleitung.

Das Strafverfahren gegen das Heim jedoch wurde kürzlich eingestellt, da ein von der Staatsanwaltschaft beauftragter Gutachter die Betroffene einer Risikogruppe zuordnete und Pflegefehler nicht eindeutig feststellbar waren. Das Verfahren gegen den Geschäftsführer dagegen wurde noch nicht eingestellt. Dennoch ist Hans-Josef Göers bis heute überzeugt, dass „uns nach dem damaligen Stand der Dinge keine andere Wahl blieb, als eine strafrechtliche Würdigung des Vorfalls zu initiieren“.

 

Nachahmung erwünscht?

Auch wenn Heimträger unter einem enormen wirtschaftlichen und finanziellen Druck stehen, gelingt es vielen Heimen trotzdem mit motivierten Kräften gute Arbeit zu leisten. Umso wichtiger ist es die Qualität der stationären Pflege zu beobachten. Heimaufsicht und MDK werden ihrer Rolle als aufsichtführende Instanz nur unzureichend gerecht. Betreuer haben im direkten und kontinuierlichen Umgang mit den betreuten Menschen die Möglichkeit, auch anhand von kleinen Details Rückschlüsse über Pflegezustand und Lebensbedingungen von Heimbewohnern zu ziehen. Betreuer müssen ihr Wächteramt nicht immer in konfrontativer Weise ausüben. Solange ein Heim sich am Wohl und den Bedürfnissen der Bewohner orientiert, sind rechtliche Vertreter Kooperationspartner der Heime.

 

„10 Gebote“ für gutes Betreuungshandeln im Heim:

  1. Betreuer führen Besuche in Heimen in regelmäßigen Abständen durch.
  2. Betreuer sind informiert über grundlegende pflegerische Standards und in der Lage gezielt Fragen zu stellen
  3. In Gesprächen mit Bewohnern erkunden Betreuer deren Zufriedenheit. Sie beobachten die Kommunikation mit Pflegepersonen und achten auf deren Präsenz.
  4. Betreuer initiieren einen Abstimmungsprozess mit den Mitarbeitern des Heimes darüber, worin das Wohlergehen der Pflegeperson besteht und wie deren Wünsche berücksichtigt werden können. Ohne die Definition des Wohls und das Feststellen der Wünsche bleiben die Maßnahmen beliebig.
  5. Betreuer stellen bei ihren Besuchen fest, wie sich das Betriebsklima in der Einrichtung darstellt und informieren gegebenenfalls die Pflegedienst- oder Heimleitung über ihre Beobachtungen. Wie hoch ist der Lärmpegel? Wirken die Mitarbeiter gehetzt? Sind genügend Mitarbeiter vor Ort und präsent?
  6. Betreuer setzen sich dafür ein, dass die Pflege und Betreuung nach dem personenorientierten Ansatz organisiert sind. Wird defizitorientiert oder ressourcenorientiert gearbeitet? Wird der individuelle Lebenshintergrund ausreichend berücksichtigt? Wie ist es mit den Selbstbestimmungsrechten in der Einrichtung bestellt? Unterliegt die Pflegeperson der Heimroutine oder orientiert sie sich an individuellen Erfordernissen?
  7. Betreuer überprüfen, ob ruhig stellende Medikamente nur mit Einverständnis der Betroffenen beziehungsweise des rechtlichen Vertreters gegeben werden. Sind die Seditativa eine Reaktion auf unerwünschtes Verhalten?
  8. Zur Gefahrenabwehr werden freiheitsentziehende Maßnahmen vom Betreuer nur angeordnet und gerichtlich genehmigt, wenn Alternativen ausführlich geprüft sind.
  9. Betreuer beobachten, ob es ein Risiko- und Beschwerdemanagement in der Einrichtung gibt. Sie nehmen Beschwerden auf, um sie mit allen Beteiligten verbindlich zu klären.
  10. Betreuer informieren Mitarbeiter von stationären Einrichtungen über die individuellen finanziellen Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität von betreuten Menschen vor Ort und bitten diese, dazu Vorschläge zu machen.

Druckversion "10 Gebote" (54 KB)

Daten & Fakten

Betreuungsverein Bremerhaven e.V.

Der Verein in unabhängiger Trägerschaft beschäftigt 15 Sozialarbeiter/innen, Sozialpädagog/innen, Diplompädagog/innen, Sozialwissenschaftler/innen und Jurist/innen, unterstützt von mehreren Verwaltungskräften (Stand November 2009). 640 Menschen in der Stadt Bremerhaven und Umgebung werden zurzeit betreut. Etwa 20 Prozent von ihnen leben in stationärer Pflege.

Kontakt:
Betreuungsverein Bremerhaven e.V.
Brookstr. 1
27580 Bremerhaven
www.betreuungsverein-bremerhaven.de

zur Projektbeschreibung